Differenzierte Therapie
Differenzierte Therapie von gastroenteropankreatischen neuroendokrinen Neoplasien (GEP-NEN)
6. „Molekulare Therapie“
6. „Molekulare Therapie“
Molekulare Wirkstoffe greifen an Schaltern in Krebszellen an, die nur in diesen bzw. kaum in gesunden Körperzellen aktiv sind. Diese molekulare Therapie wird daher auch als zielgerichtete Therapie oder „targeted therapy“ bezeichnet. Zwei molekulare Wirkstoffe sind für die Therapie der NEN zugelassen: Sunitinib (Suten®) und Everolimus (Afinitor® oder Generika). Sunitinib gehört zur Klasse der Tyrosinkinasen-Hemmer, die einen für die Gefäßneubildungen wichtigen Wachstumsfaktor (VEGF) blockiert. Everolimus blockiert die mTOR Kinase, die für Zellwachstum wichtig ist.
Beide Wirkstoffe sind nach der Durchführung von Phase III Studien für die Therapie der gut differenzierten NEN zugelassen. Sunitinib in einer Dosierung von 37,5 mg am Tag für gut differenzierte NEN der Bauchspeicheldrüse und Everolimus in einer Dosierung von 10 mg am Tag für gut differenzierte NEN der Lunge und des gastro-entero-pankreatischen Systems.
Eine weitere molekulare Therapie ist der Wirkstoff Telotristatethyl (Xermelo®), der die Tryptophan Hydroxylase inhibiert, ein Schlüsselenzym in der Biosynthese von Serotonin, das bei Patienten mit Karzinoidsyndrom unkontrolliert in die Blutbahn ausgeschüttet wird. Telotristatethyl ist für die Therapie des Karzinoidsyndroms in Verbindung zur Gabe von Somatostatin-Analoga zugelassen. Die Dosis beträgt 3 x 250 mg zu den Mahlzeiten.
Weitere molekulare Wirkstoffe, die in klinischen Studien erfolgreich untersucht wurden, sind die Tyrosinkinase-Hemmer Axitinib, Cabozantinib, Nindetanib, und weitere, von denen aber bisher keiner für die Therapie der gut differenzierten NEN zugelassen ist.
Auch die Immuntherapie oder Immun-Checkpoint Therapie wurde in einigen Studien bei NEN untersucht. Hier zeigten sich in der alleinigen Immun-Checkpoint Therapie enttäuschende Ergebnisse außer bei einer Klasse von NEN der Lunge (atypische Karzinoide). Aktuell laufende Studien (2021) untersuchen daher vor allem die Wirkung der Immun-Checkpoint Therapie in Kombination mit anderen molekularen Substanzen.
1. Allgemeine Tumorbiologie der NEN
1. Allgemeine Tumorbiologie der NEN
Die neuroendokrinen Neoplasien (NEN) umfassen eine sehr heterogene Gruppe von Tumoren und können in ihrem klinischen Verlauf sehr stark variieren. Die Spanne reicht vom eher benignen, gutartigen, gut differenzierten neuroendokrinen Tumoren (NET) ohne invasives Wachstum oder Metastasen bis zum rasch wachsenden, bösartigen, gering differenzierten neuroendokrinen Karzinom (NEC), das sich biologisch ähnlich wie ein kleinzelliges Lungenkarzinom verhält. Diese letztgenannten Tumoren können sehr aggressiv sein und werden in der Regel mit einer Chemotherapie behandelt.
2. Grundlegende Ãœberlegungen zur Therapie
2. Grundlegende Ãœberlegungen zur Therapie
Die Therapie der NEN muss somit sehr differenziert betrachtet werden und richtet sich nach Tumorstadium, Differenzierungsgrad, Ursprung, funktioneller Aktivität und (Somatostatin-)Rezeptorbesatz. Idealerweise werden die NEN in einem frühen Stadium der Erkrankung chirurgisch komplett entfernt und dadurch geheilt. Dies ist jedoch nur bei den NEN der Appendix (des Blinddarms) regelhaft der Fall, die meisten dieser Tumoren werden zufällig im Rahmen einer Blinddarmentfernung detektiert und erfordern nur selten eine Nachresektion unter onkologischen Gesichtspunkten oder gar eine systemische (z. B. Chemo-)Therapie. Die NEN des Rektums (Enddarms) werden oft durch eine Polypektomie, also Polypenentfernung, im Gesunden komplett entfernt, allerdings ist zu beachten, dass sobald der Tumor tiefer in die Darmwand eingewachsen ist und die sogenannte Submukosa, die nächst tiefergelegene Schicht der Darmwand infiltriert hat, oft bereits Lymphknotenmetastasen vorhanden sind. Dagegen ist die Erkrankung bei NEN anderen Ursprungs bei Diagnosestellung meist generalisiert, und es liegen häufig Fernmetastasen (am häufigsten in der Leber, Lymphknoten oder im Knochen) vor. Die konservative Therapie muss sich daher meist auf einen palliativen Ansatz beschränken, das heißt, man kann die Erkrankung nicht heilen, aber die Lebensqualität deutlich verbessern und die Erkrankung oft sogar über Jahre stabil halten. Eine derartige Therapie erfordert jedoch ein abgestuftes und differenziertes Vorgehen unter der Beachtung der Lebenssituation des Patienten. Die außerordentliche Variabilität des Tumorwachstums im Verlauf der Erkrankung kann bedeuten, dass die Tumoren auch im Spontanverlauf mehrere Jahre (!) stabil bleiben, sehr selten sogar spontane (partielle) Remissionen aufweisen (also kleiner werden), um dann wieder zu wachsen. Diese Beobachtungen führten dazu, dass einige Behandler am Anfang der Erkrankung den Spontanverlauf über drei bis sechs Monate abwarten und erst bei einer nachgewiesenen Progression, also einem Fortschreiten der Erkrankung, therapeutisch intervenieren. Nach unseren Erfahrungen und den Empfehlungen anderer großen Zentren sollte eine gezielte Therapie möglichst frühzeitig beginnen, solange die Tumorlast noch gering ist, da mit jeder Progression der Erkrankung weniger Therapiemodalitäten zur Verfügung stehen. Prinzipiell sollte sich jeder Therapeut (und auch der Patient mit einer NEN-Erkrankung) bewusst sein, dass der Krankheitsverlauf sich über Jahre bis Jahrzehnte, oft mit wenig Einschränkungen in der Belastbarkeit, hinziehen kann und häufig multiple verschiedene Therapiemodalitäten abgestuft erforderlich sind, um die Tumorlast zu begrenzen. Dieses Vorgehen erfordert eine hohe Individualisierung der Therapie einerseits und umfangreiche Erfahrung vonseiten der behandelnden Ärzte andererseits (Abstimmung des Vorgehens im interdisziplinären Tumorboard !), da hier die üblichen „standardisierten“ Vorgehensweisen, z. B. in der onkologischen Therapie häufiger solider Tumoren, nicht angewandt werden können. Genauso wichtig wie die gemeinsame Entscheidung über die Durchführung einer Therapie ist es, eine Übertherapie zu vermeiden, die möglicherweise andere nachfolgenden Therapie behindern kann.
3. „Biotherapie“ mit Somatostatin-Analoga
3. „Biotherapie“ mit Somatostatin-Analoga
Die Expression von Somatostatinrezeptoren durch NEN ist die Grundlage für eine „Biotherapie“ mit Somatostatin-Analoga. Somatostatinrezeptoren (SSR) werden in fünf Isoformen von NETs und anderen Tumoren exprimiert (SSR1-SSR5). Diese Rezeptoren sind G-Protein-gekoppelt und bewirken eine Abnahme an sekundären Transmittern wie cAMP oder Calcium in der Zelle und damit eine Verminderung der Sekretion. Diese Eigenschaft macht sie insbesondere zur Therapie sog. „funktionell aktiver“ NETs sehr nützlich. Zur Zeit stehen zwei Somatostatin-Analoga für die Therapie von NEN zur Verfügung; Octreotide (Sandostatin®) und Lanreotide (Somatuline®). Die Somatostatin-Analoga sind zugelassen für die Therapie funktioneller NETs zur Verminderung der Sekretion von Hormonen und Botenstoffen und führen hier bei der Mehrzahl der Patienten zu einer Verminderung der Beschwerden wie Flush oder Diarrhoe. Zusätzlich werden die Somatostatin-Analoga zur Kontrolle des Tumorwachstums eingesetzt. Nach den Ergebnissen der PROMID und der CLARINET-Studien wirken die Somataostatin-Analoga Octreotid-LAR bei NEN des Dünndarmes und Lanreotid-Autogel bei NEN des Pankreas und des Dünndarmes hemmend auf das Tumorwachstum und sind für beide NEN Arten zugelassen. Beide Somatostatin-Analoga sind als Depotform für die 4-wöchige Anwendung verfügbar. Octreotid ist zusätzlich für die subkutane und intravenöse Anwendung erhältlich.
Die derzeit verfügbaren Somatostatin-Analoga binden vor allem an den Somatostatinrezeptor 2 (SSR2) und weniger stark an den SSR5 und SSR3. Ein in Prüfung befindliches Somatostatin-Analogon, Pasireotide (Signifor®) bindet an alle fünf SSRs. Eine Studie zur Wirkung von Pasireotide bei funktionellen NEN zeigte jedoch keine überlegene Wirkung zu Octreotid. Pasireotide ist aktuell zur Therapie des Morbus Cushing und der Akromegalie zugelassen.
Eine Weiterentwicklung ist ein oral verfügbares (muss nicht gespritzt werden) Somatostatin-Analoga, Palutosine, das aktuell in klinischen Studien bei Patienten mit NEN untersucht wird.
Eine Kombination der Somatostatin-Analoga mit Interferon bringt für die meisten Patienten keinen zusätzlichen Nutzen, so dass diese Kombination zunehmend seltener eingesetzt wird. Vor dem Einsatz von Somatostatin-Analoga in antiproliferativer Absicht sollte der nuklearmedizinische Nachweis von Somatostatinrezeptoren erfolgen (siehe Abschnitt „Diagnostik von gastroentero-pankreatischen Tumoren“), bei funktionellen Syndromen ist ein Therapieversuch auf jeden Fall gerechtfertigt.
4. Einsatz der Chemotherapie
4. Einsatz der Chemotherapie
Die Chemotherapie spielt eine entscheidende Rolle bei den schnell wachsenden, entdifferenzierten neuroendokrinen Karzinomen (G3). Hier kommen vor allem Kombinationen aus einem Platinpräparat (Cisplatin/Carboplatin) mit Etoposid zum Einsatz. Diese Tumoren sprechen in der Regel gut auf die initiale Chemotherapie an, die Tumoren wachsen aber schnell wieder nach und werden als Zweitlinientherapie behandelt wie die kleinzelligen Lungenkarzinome. Allerdings sollte vor dem Einleiten einer Chemotherapie genau auf die Proliferationsrate der neuroendokrinen Karzinome geachtet werden, da ein Ansprechen auf eine Chemotherapie nur ab einer Proliferationsrate von etwas mehr als 50 % erwartet werden kann.
Von den gut differenzierten NEN sprechen nur die NEN der Bauchspeicheldrüse auf eine Chemotherapie an, hierzu wird eine auf Streptozotozin basierende Kombination mit 5-Fluorouracil eingesetzt. Das Ansprechen auf eine Chemotherapie bei diesen Tumoren liegt bei circa 50 %. Eine orale Chemotherapie bei pankreatischen NEN ist die Kombination von Temozolomid und Capecitabine (TEM/CAP) mit einem ähnlichen Ansprechen und guter Verträglichkeit.
Neuroendokrine Rektumkarzinome sind ebenfalls eingeschränkt empfindlich für eine Chemotherapie, während die häufigen Dünndarm-NETs nur ein Ansprechen von weniger als 20 % zeigen, weshalb eine Chemotherapie für diese Tumorentität nicht empfohlen wird.
5. Einsatz der Radionuklidtherapie
5. Einsatz der Radionuklidtherapie
Die Expression von Somatostatinrezeptoren auf den NEN ist auch die Grundlage der Peptidrezeptor-vermittelten Radionuklidtherapie (PRRT) oder kurz Radio-Rezeptortherapie. Bei diesem Verfahren wird über einen Chelator (= DOTA) ein Betastrahlen emittierendes Therapienuklid an ein Somatostatin-Analogon gebunden (Octreotate = DOTA-TATE oder Tyrosin-Octreotid = DOTA-TOC). Je nach Tumor-/Metastasengröße wird 90Yttrium (Betastrahler mit einer Reichweite von ca. 12 mm im Gewebe) oder 177Lutetium (Betastrahler mit niedriger Reichweite von ca. 2 mm) als Therapienuklide eingesetzt. Dabei wird 90Yttrium präferentiell für größere Tumoren und 177Lutetium häufig für kleinere Tumoren eingesetzt.
Die Kombination von DOTA-TATE mit 177Lutetium wurde in einer großen randomisierten und kontrollierten Studie untersucht (NETTER-1). Im Wirkstoffarm wurden 4 Zyklen von 7,4 GBq 177Lutetium DOTATATE (LUTATHERA) alle 8 Wochen gegeben. Die Petidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie wurde mit der Gabe von 30 mg Octreotid-LAR alle 4 Wochen tief i.m. kombiniert. Im Kontrollarm wurde 2 x 30 mg Octreotid-LAR alle 4 Wochen tief i.m. gegeben. Untersucht wurden NEN des Dünndarms nach einem Fortschreiten der Erkrankung unter Somatostatin-Analoga-Therapie. Das Progression-freie Überleben im Petidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie Arm lag bei 28,4 Monaten verglichen mit 8,5 Monaten im Somatostatin-Analoga-Arm. Die Nebenwirkungen waren gering, eine KM Toxizität trat bei circa 2% der Patienten auf. Mittlerweile ist LUTATHERA für die Therapie von NEN des GEP in den USA und in Europa zugelassen. Eine weitere Zulassungs-relevante Studie untersucht zur Zeit die Wirkung von 177Lutetium DOTATOC im Vergleich zu Everolimus bei GEP-NEN (COMPETE). Weitere Studien wie die NETTER-1 und die geplante COMPETE-2 werden das Spektrum der durch Peptidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie behandelbare Tumore erweitern.
Für die Gabe von 90Yttrium liegen nur retrospektive Daten vor, hier ist aktuell keine Zulassungsstudie geplant. Unsere Erfahrungen mit 90Yttrium und 177Lutetium für die Peptidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie bei NEN wurde bei 1048 Patienten ausgewertet (Results and adverse events of personalized peptide receptor radionuclide therapy with 90Yttrium and 177Lutetium in 1048 patients with neuroendocrine neoplasms. Baum RP, Kulkarni HR, Singh A, Kaemmerer D, Mueller D, Prasad V, Hommann M, Robiller FC, Niepsch K, Franz H, Jochems A, Lambin P, Hörsch D. Oncotarget. 2018 Feb 15;9(24):16932-16950).
Baum et al. 2018). Hier lag das Progression-freies Überleben bei 19 Monaten und das Überleben bei 51 Monaten im Median. Wenn die Peptidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie Nach einer Pause von mehr als 6 Monaten die Peptidrezeptor vermittelte Radionuklidtherapie wieder aufgenommen wurde, war sie immer noch wirksam, allerdings verringerte sich dann das Progression-freies Überleben auf 11 Monate. Die Wirkung der Peptidrezeptor vermittelten Radionuklidtherapie war abhängig vom Primärtumor, dem verwendeten Radionuklid und dem Grading der NEN. Schwere hämatologische Nebenwirkungen traten bei 2,1% der Patienten auf und eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz bei 5 von 1048 Patienten. Umfangreiche Erfahrungen wurden auch zu Kombinationstherapien von 90Yttrium und 177Lutetium publiziert. Neue, noch experimentelle Therapien beinhalten Somatostatinrezeptor-Antagonisten wie JR-11 oder LM-3, die deutlich empfindlicher sind und auch bei schwer vorbehandelten Patienten eingesetzt werden können. Neu sind auch Somatostatin-Analoga gekoppelte alpha-Strahler für die Therapie wie 225Actinium, die experimentell an unserer Klinik eingesetzt werden.